Immer noch höre ich von anderen Eltern, Erzieher*innen und Kolleg*innen, dass sie es richtig finden, wenn das Kind mal eine Auszeit bekommt, wenn es etwas falsch gemacht hat. Hat das Kind zum Beispiel ein anderes mit Sand beworfen und reagiert nicht auf die Aufforderung das zu unterlassen, wird es genommen und auf die Bank gesetzt, damit es mal über seine Tat nachdenkt. Eine Kollegin geht davon aus, dass dies das Kind dazu anhält, darüber nachzudenken, was es falsch gemacht hat und den Fehler einsieht. Kann es das?
Die Antwort ist klar: Nein. Kinder, insbesondere Kleinkinder, haben überhaupt noch nicht die ausgereifte Vernunft und das ausgereifte Gewissen, um über Fehler nachzudenken und somit die Verantwortung dafür zu übernehmen und einzusehen.
Sie sind völlig im Fühlen, im Hier und Jetzt und brauchen Unterstützung, mit diesen Gefühlen umzugehen. Wirft ein Kind also mit Sand, kann ich davon ausgehen, dass es wütend oder frustriert ist, vielleicht auch gelangweilt. Auf jeden Fall sollte daher der logische Schritt sein, das Gefühl zu benennen und vielleicht zu schauen wo es herkommt. Im nächsten Schritt hilft es, wenn danach geschaut wird, welches Bedürfnis das Kind gerade hat. Warum ist es wütend oder frustriert? Was braucht es gerade und können wir ihm helfen, sein Bedürfnis zu erfüllen. Frust muss auch mal ausgehalten werden können, wenn es nicht gleich Abhilfe gibt. Aber das Kind muss da nicht alleine durch. Es braucht die Präsenz der Eltern oder Erzieher*innen. Präsenz heißt: „Ich bin da. Ich sehe dich. Ich sehe, dass du gerade etwas anderes brauchst. Ich lasse dich mit deinem Kummer nicht allein.“
Präsenz heißt auch, ich helfe dabei, alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und für das Kind mal die andere Perspektive zu übernehmen. Das heißt, um dem Kind zu zeigen, dass es nicht in Ordnung ist, andere Kinder zu hauen oder mit Sand zu bewerfen, zeige ich ihm, dass das andere Kind darüber traurig ist oder auch wütend wird. Ich kann es fragen, wie es ihm geht, wenn es von anderen gehauen oder mit Sand beworfen wird. Das können sie oft sehr gut nachvollziehen. Dazu brauche ich aber nicht sofort die Bestätigung, dass sie alles einsehen und sich entschuldigen. Das kommt dann oft von ganz allein und zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind soweit ist. Sie haben auch hier ihr eigenes Tempo. Und wir Erwachsenen sollten viel mehr Geduld aufbringen.
Wenn ich nun immer wieder höre, wie okay meine Kolleg*innen, befreundete Eltern oder Erzieher*innen es finden, dem Kind mal eine Auszeit zu geben, macht mich das traurig. Denn zumindest Erzieher*innen und anderes ausgebildetes pädagogisches Personal sollte wissen, dass es vom Entwicklungsstand der Kinder überhaupt keinen Sinn macht. Es ist immer noch eher die Hilflosigkeit, wie sie dem Fehlverhalten ohne Strafe begegnen sollen. Wir wissen, dass physische und psychische Gewalt (= Strafe) verboten ist und suchen nach harmlosen Konsequenzen.
Aber eine Auszeit ist nicht harmlos, auch wenn sie erst mal so aussehen mag. Es ist vielleicht weniger demütigend als in der Ecke zu stehen, wie es noch vor 30 Jahren der Fall war, aber auch nicht unbedingt. Auch ein bestimmter Stuhl oder eine Bank können zum Pranger werden. Gern wird dann auch von einer freiwilligen Auszeit gesprochen. Wir gehen davon aus, dass das Kind jetzt mal etwas Ruhe und Abstand braucht, ohne es zu fragen, ob es wirklich das ist, was es braucht. Wenn das Kind Ruhe braucht, nimmt es sich die auch, wenn die Umgebung dafür geschaffen ist. Oder ich helfe ihm dabei herauszufinden, was es braucht. Und finde ich dann heraus, dass es wirklich gerade eine Ruhepause braucht, dann möchte es diese selten völlig allein verbringen. Es möchte zum Beispiel gern ein Buch vorgelesen bekommen. Da das nicht immer möglich ist bei wenigen Erzieher*innen mit vielen Kindern, hilft es trotzdem sehr viel mehr, dem Kind zu sagen: „Ich verstehe dich. Du brauchst jetzt ein wenig Ruhe und möchtest dich am liebsten mit mir zusammenkuscheln und ein Buch lesen. Das geht leider nicht, weil ich gerade mit den anderen Kindern draußen auf dem Spielplatz bin. Wie kannst du es dir selbst gemütlich machen? Möchtest du dir das Buch einfach anschauen? Möchtest du ein Hörbuch hören? Möchtest du malen?“
Übergehe ich die Bedürfnisse, die hinter dem unerwünschten Verhalten stehen völlig, fühlt sich das Kind unverstanden und ungerecht behandelt. Die Wut auf das andere Kind (oder die anderen Kinder) steigt und kann dazu führen, dass sie nur umso mehr an eben diesem Kind ausgelassen wird, wenn gerade niemand hinsieht. Es hat keine Handlungsalternative gelernt, sondern nur „Meine Eltern (oder Erzieher*innen) sind richtig gemein. Immer werde ich ungerecht behandelt.“
Auszeiten sind per se Liebesentzug. Sie zeigen dem Kind, dass wir uns nicht mit ihm auseinandersetzen wollen, solange es nicht so ist, wie wir es haben wollen. Sie suggerieren dem Kind: „So wie du jetzt bist, will ich dich nicht mehr sehen. So kann ich dich nicht lieben. Funktioniere erst wieder so wie ich dich haben will, dann bekommst du meine Liebe wieder.“
Wenn diese Strafe doch so harmlos ist, wie kommt es dann, dass die Kinder so sehr darunter leiden? Es ist doch zu ihrem Besten! Sie brauchen ja eine Auszeit! Oder? Zumindest, wenn sie die Auszeit das erste, zweite und dritte Mal verhängt bekommen, sträuben sie sich dagegen. Sie rufen oder kommen immer wieder angelaufen. Sie weinen, wollen auf den Arm oder den Schoß genommen werden. Sie zeigen eindeutig, wie sehr sie unter der Trennung leiden. Sie wollen sich der Liebe und Zuneigung versichern, die sie gerade dringend brauchen. Von Präsenz der Eltern oder auch anderen Bezugspersonen fehlt in diesem Moment jede Spur. Noch gruseliger wird es, wenn darauf statt mit Empathie, mit noch mehr Wut seitens der Erwachsenen reagiert wird und die Auszeit dann entsprechend verlängert wird: „Jedes Mal wenn du wieder rauskommst, aufstehst oder was auch immer, fängt die Auszeit von vorne an.“ Was ist das anderes als psychische Gewalt? Es ist absoluter Machtmissbrauch und hat mit Empathie und bedingungsloser Liebe oder bedingungsloser Wertschätzung absolut nichts zu tun. Damit fällt es eindeutig in die Kategorie Strafe und wir sollten aufhören, unsere Gewalt immer mit dem Begriff „Konsequenz“ zu verharmlosen: „Es muss doch Konsequenzen geben“ tönt es von allen Seiten. Die gibt es ja auch. Ganz natürliche. Auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Das ist die Konsequenz. Uns Dinge auszudenken, mit denen wir Kinder bestrafen, ist keine Konsequenz, sondern einfach nur herzlos.
Wir sollten uns wirklich bewusst machen, was das Kind wirklich dabei lernt. Rein vom Reifegrad können wir sicher sein, dass es nicht über seinen Fehler nachdenkt und daraus eine Lehre zieht. Es lernt nur, die anderen sind gemein zu mir, was ich will zählt nicht, ich bin nicht okay und das andere Kind, das ich gerade geärgert habe, wird viel mehr geliebt. Ich werde nicht geliebt. Liebe und die Annahme einer Person an Bedingungen zu knüpfen, führt zu Menschen, die kein gutes Selbstwertgefühl haben und zusehen wie sie sich einen Vorteil verschaffen können, indem sie andere Menschen klein halten. Nur durch Begegnung mit Empathie, werden sie auch selbst zu mitfühlenden Menschen.
Tipps zum Weiterlesen:
- Alfie Kohn: Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung
- Herbert Renz-Polster: Menschenkinder. Artgerechte Erziehung – was unser Nachwuchs wirklich braucht
- Jesper Juul: Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie
- Jesper Juul: Die kompetente Familie. Neue Wege in der Erziehung